Wenn Ihr Bewerbungsprozess nur für gesunde, neurotypische, deutschsprachige Vollzeitkräfte funktioniert – für wen rekrutieren Sie dann eigentlich?
Recruiting ist längst mehr als Prozessoptimierung. Es ist ein Kulturtest. Und die Candidate Journey ist das Prüfungsformat.
Während Unternehmen viel Geld in Employer Branding investieren, entscheidet sich die wahre Arbeitgeberattraktivität oft in Momenten, die keine Hochglanzkampagne abbildet: wenn ein Formular nicht barrierefrei ist, ein Vorstellungsgespräch ohne Rücksicht auf Neurodiversität geführt wird oder Kandidat:innen nach der Bewerbung nie wieder etwas hören.
Eine starke Candidate Journey beginnt nicht bei der Jobanzeige und endet genauso wenig beim Arbeitsvertrag. Sie ist ein durchgängiges Erlebnis – und sie sagt viel darüber aus, wie ernst ein Unternehmen Vielfalt, Respekt und Kommunikation nimmt.
Doch wie schafft man eine Candidate Journey, die begeistert und dabei kontinuierlich besser wird? Kurzum: Der Schlüssel liegt im richtigen Zusammenspiel von Feedback, Kultur und inklusivem Denken.
Die Candidate Journey als Spiegel der Unternehmenskultur
Wenn die Candidate Journey heute ein strategischer Erfolgsfaktor ist, dann nicht nur, weil der Fachkräftemangel drückt – sondern weil sie zeigt, wie ein Unternehmen Menschen im Ganzen sieht.
Wer im Bewerbungsprozess Wert auf Transparenz, Fairness und Individualität legt, demonstriert diese Werte meist auch im späteren Arbeitsalltag. Wer hingegen absagt, ohne Feedback zu geben, oder Kandidat:innen mit Behinderungen durch technische Barrieren ausschließt, sendet ungewollt ein starkes Signal – über das eigene Selbstverständnis.
Die Forschung untermauert diese Wirkung. Laut einer Gallup-Analyse von 2024 sind neue Mitarbeitende, die im Bewerbungsprozess ein wertschätzendes, strukturiertes Erlebnis hatten, drei Mal häufiger langfristig zufrieden mit ihrem Job (Gallup 2024). Die Candidate Journey wirkt also weit über den Moment der Einstellung hinaus. Insbesondere auf die Employee Retention.
Besonders relevant: Viele Unternehmen unterschätzen die Rolle von Barrierefreiheit als kulturelles Signal. Wenn etwa das Online-Bewerbungsformular nicht screenreader-kompatibel ist oder bei Interviews keine Rücksicht auf Reizverarbeitung genommen wird, erleben neurodiverse oder mobilitätseingeschränkte Talente implizit das Gefühl: „Hier gehöre ich nicht hin.“
Diese Barrieren sind nicht nur ein ethisches Versäumnis – sie sind ein betriebswirtschaftliches Risiko. Accenture zeigt in einer Studie von 2023, dass Unternehmen mit hoher Inklusion im Recruiting 2,6× mehr Gewinn erzielen als der Durchschnitt (Accenture 2023). Auch wir greifen das auf in unserem Insight “Barrierefreie Bewerbungsprozesse – So erreichen Sie ein breiteres Feld von Talenten”.
Kulturell reife Unternehmen erkennen die Candidate Journey daher als das, was sie ist: ein authentischer Ausdruck von Leadership-Kultur, gelebter Diversität und digitaler Reife. Wer hier auf Augenhöhe agiert – und aktiv zuhört, positioniert sich als moderner Arbeitgeber und als authentischer Kulturträger.
Erlebnisse gestalten – Candidate Experience aktiv steuern
Kandidat:innen erinnern sich selten an das, was Unternehmen über sich sagen – aber immer an das, was sie erleben. In Zeiten, in denen Bewertungen auf kununu oder Glassdoor die Realität im Recruiting widerspiegeln, ist es fahrlässig, die Candidate Experience dem Zufall zu überlassen.
Jeder Touchpoint im Bewerbungsprozess ist ein kultureller Mikro-Moment. Vom ersten Klick auf die Stellenanzeige über die Einladung zum Interview bis zum finalen Feedback – alles sendet Signale. Und diese Signale prägen das Gefühl, ob man sich gesehen, respektiert und willkommen fühlt.
Ein häufiger Fehler: Prozesse werden aus interner Effizienzlogik gestaltet, nicht aus Sicht der Bewerber:innen. Dabei zeigen die Daten aus dem 2023 Global Candidate Experience Benchmark Report, dass Kandidat:innen bereits dann abspringen, wenn sie sich intransparent behandelt oder nicht respektvoll angesprochen fühlen (Talent Board 2024). Besonders in den ersten drei Phasen – Jobanzeige, Bewerbung, Erstkontakt – entscheidet sich laut Studie das emotionale Grundgefühl der gesamten Journey.
Was können Unternehmen konkret tun?
- Stellenanzeigen mit Mensch im Fokus: Was erwartet Bewerber:innen wirklich – inhaltlich und kulturell?
- Antwortzeiten verkürzen: Laut PwC brechen über 60 % der Kandidat:innen Bewerbungen ab, wenn sie nicht innerhalb einer Woche Rückmeldung erhalten (PwC 2022).
- Interviews wertschätzend gestalten: Small Talk ist kein Soft Skill – er entscheidet mit, ob sich Bewerber:innen sicher fühlen.
- Feedback geben – auch bei Absagen: Eine kurze, persönliche Rückmeldung wird häufiger geteilt als jede Imagekampagne.
Und was ist mit Technologie? Sie ist kein Selbstzweck. Digitale Tools wie Bewerbermanagementsysteme (ATS) oder Chatbots sollten Prozesse vereinfachen, nicht distanzieren. Wer automatisiert kommuniziert, sollte trotzdem Empathie einbauen: mit verständlicher Sprache, klaren Informationen und der Option auf Rückfragen.
Candidate Experience entsteht nicht in PowerPoint-Folien – sondern im täglichen Tun. Wer seine Journey aktiv gestaltet, statt sie nur zu verwalten, verwandelt Recruiting vom Prozess zur Beziehung.
Feedbackkultur etablieren – nicht nur fragen, sondern zuhören
Feedback einholen ist leicht. Zuhören, also wirklich zuhören – ist die Kunst.
Viele Unternehmen implementieren nach Vorstellungsgesprächen automatisierte Zufriedenheitsumfragen, um „die Candidate Experience zu messen“. Doch zu oft bleibt es bei oberflächlichen Zahlen – ohne Wirkung auf die Realität der Bewerber:innen.
Dabei ist Feedback der wertvollste Sensor für kulturelle Reibungspunkte. Es zeigt, wo Erwartungen nicht erfüllt werden, wo Kommunikationsstile missverstanden werden oder wo technologische Tools zwar effizient, aber unpersönlich wirken. Und: Es offenbart blinde Flecken. Besonders dann, wenn Organisationen gezielt Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen – z. B. neurodiverse Bewerber:innen, internationale Kandidat:innen, Bewerber:innen mit Behinderungen – nach ihren Erlebnissen fragt.
Die besten Arbeitgeber tun genau das:
- Sie machen Feedback zum festen Bestandteil der Candidate Journey – strukturiert, anonymisiert und auf Wunsch auch offen.
- Sie analysieren Feedback entlang definierter Touchpoints und KPIs – etwa Drop-off-Raten, Zufriedenheit mit Erstkontakt oder Post-Interview-Transparenz (Feedback nach Absage).
- Und vor allem: Sie reagieren. Sie passen ihre Sprache an, ändern Formulare, briefen Hiring Manager und verbessern Timings.
Ein starker Praxisimpuls als Inspiration: Laut dem CandE Benchmark Report 2023 fragen Top-Unternehmen dreimal häufiger nach Bewerberfeedback als der Durchschnitt – und implementieren konkret abgeleitete Maßnahmen (Talent Board 2024). Sie machen Feedback sichtbar. In Form von veränderten Prozessen. Oder durch Rückmeldungen im Sinne von: „Danke für den Hinweis – wir haben XY angepasst.“
Genau so entsteht Vertrauen. Und Vertrauen ist die Währung starker Arbeitgebermarken. Denn Bewerber:innen erinnern sich nicht daran, wie oft man sie gefragt hat – aber daran, ob man sie gehört hat.
Inklusion als Qualitätsmerkmal – Wie barrierefreie Prozesse die Candidate Journey stärken
Barrierefreiheit im Recruiting wird oft als technische Aufgabe verstanden. Dabei ist sie weit mehr: ein kulturelles Qualitätsmerkmal – und ein echter Differenzierungsfaktor im Wettbewerb um Talente.
Wichtig: Inklusion beginnt nicht erst am ersten Arbeitstag. Sie beginnt dort, wo Menschen entscheiden, ob sie sich überhaupt bewerben möchten. Und genau hier scheitert es noch viel zu oft: unübersichtliche Formulare, keine Alternativformate, keine klaren Hinweise für Bewerber:innen mit Einschränkungen. Dabei bedeutet „barrierefrei“ nicht nur „rollstuhlgerecht“. Es bedeutet: visuell zugänglich, sprachlich verständlich, sensorisch entlastend, technisch kompatibel – für alle.
Die gute Nachricht: Viele Maßnahmen sind einfacher umzusetzen als gedacht.
Einige Beispiele:
- Screenreader-optimierte Bewerbungsformulare
- Alternativtexte für Bilder in Stellenausschreibungen
- Untertitel für Videos auf der Karriereseite
- Hinweise zur Barrierefreiheit bereits in der Stellenanzeige
- Flexible Interviewformate (z. B. Remote, asynchron, schriftlich)
- Rücksicht auf kognitive Belastung – z. B. durch Pausen im Interview oder klare Struktur
Diese Maßnahmen signalisieren: Du bist willkommen – nicht obwohl, sondern weil du individuell bist.
Lesen Sie dazu auch “Checkliste für barrierefreie und erfolgreiche Karriereseiten” und “KI und Automatisierung: Wie Algorithmen den Bewerbungsprozess inklusiver machen”.
Zahlreiche Studien bestätigen: Unternehmen, die inklusiv rekrutieren, profitieren nicht nur von größerer Vielfalt, sondern auch wirtschaftlich. Wie bereits erwähnt, zeigt die Accenture-Studie „The Disability Inclusion Imperative“, dass Arbeitgeber mit hoher Inklusionsreife 1,6× mehr Umsatz und 2,6× mehr Gewinn erzielen als der Branchendurchschnitt (Accenture 2023).
Und auch aus Perspektive der Candidate Experience gilt: Inklusive Prozesse erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Bewerbungen und senken die Abbruchraten – insbesondere bei unterrepräsentierten Gruppen.
Barrierefreiheit ist damit kein „nice to have“, sondern ein integraler Bestandteil einer zukunftsfähigen, glaubwürdigen Candidate Journey. Sie zeigt nicht nur, wer eingeladen wird – sondern wer berücksichtigt wurde.
Fazit: Candidate Journey neu denken – und endlich ernst nehmen
Die Candidate Journey ist kein Prozessdiagramm. Sie ist ein Erlebnis. Und wie bei jedem Erlebnis entscheidet, wie es sich anfühlt. Immer.
Unternehmen, die Recruiting als Einbahnstraße verstehen, verlieren Talente, bevor sie sie wirklich kennenlernen. Wer hingegen bereit ist, zuzuhören, zu reflektieren und auch unbequeme Erkenntnisse zuzulassen, wird belohnt: mit besseren Matches, stärkerem Employer Branding – und einer Kultur, die nach innen wie außen überzeugt.
Der Weg dahin beginnt mit einer klaren Haltung und konkreten Schritten:
Feedback ernst nehmen.
Touchpoints gezielt gestalten.
Und Barrieren abbauen – sichtbar und still.
Denn die beste Candidate Experience ist die, die niemand ausschließt.
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Quellen
- Gallup (2024): The Lasting Impact of Exceptional Candidate Experiences.
https://www.gallup.com/workplace/651650/lasting-impact-exceptional-candidate-experiences.aspx - Accenture (2023): Companies That Lead in Disability Inclusion Outperform Peers Financially.
https://newsroom.accenture.com/news/2023/companies-that-lead-in-disability-inclusion-outperform-peers-financially-reveals-new-research-from-accenture.htm - Talent Board / ERE Media (2024): 2023 Global Candidate Experience Benchmark Report.
https://www.eremedia.com/reports/2023-global-candidate-experience-cande-benchmark-research-report
- PwC (ca. 2022): The Future of Recruiting: What Do Job Seekers Want?
https://www.pwc.com/us/en/services/consulting/business-transformation/library/hr-recruiting.html